Ich bin Übersetzer. Das war mir nicht so vorbestimmt. Das bin ich irgendwie geworden. Ich habe es weder studiert, noch angestrebt. Das Übersetzen hat mich gefunden und gefangen. Ich bin ein Straßenkind des Übersetzens. Eines Tages lag ein Text vor mir. Wie ein Fußball im Rinnstein, der von einem streunenden Jungen angekickt wird. Erst spielt man ein wenig herum, dann versucht man ein paar Tricks. Dann merkt man, dass es irgendwie geht. Es war ein Text über Rüttelsiebe. Das sind Anlagen, die von einem Vibrationsmotor in Schwingungen versetzt werden, um Sand, Steine, Getreide oder Bohnen auszusieben. Oder auch Erbsen. Oder auch Äpfel einer bestimmten Größe. In der Schule war ich nicht schlecht in Englisch und Französisch, aber auch nicht gut. In meiner Abiturarbeit übersetzte ich "Rocket" mit "kleiner Felsen" (als Diminutiv von „rock“). Dabei hätte ich nur im Wörterbuch nachschauen müssen, und ich hätte richtig mit „Rakete“ übersetzt. So war mein Abitur eben auch kein Meilenstein in meiner Übersetzerkarriere. Von da zu Rüttelsieben? Ein weiter Weg. Jetzt sollte ich also verstehen, was ein „Schwingungsförderer“ ist, was „en vrac“ bedeutet, welche Kräfte über ein „engrenage“ in einem „carter“ (à propos, Jimmy Carter war damals noch nicht einmal Präsident der USA) übertragen werden. Und ich hatte keinerlei Ausbildung. Ich war Student der Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft. Nebenbei studierte ich Ethnologie. Um meine Studien zu finanzieren, arbeitete ich als Stenotypist. Das konnte ich, weil ich in meiner Schulzeit Tausende von Seiten geschrieben hatte, in der vergeblichen Hoffnung, einmal Schriftsteller zu werden. Geblieben sind vergilbende Blätter. Und die Fähigkeit, sehr schnell zu tippen. Die Firma, bei der ich damals meinen Teilzeitarbeitsplatz hatte, schickte mich zu Firmen wie Procter & Gamble, Unilever, Allianz. Ich tippte Verträge, Marketingstrategien, Lebensmittelindizes. Natürlich ging ich auch zu Vorlesungen – dazwischen. Und eines Tages, ich war gerade wieder einmal zu einer Teilzeitmission beim Österreichischen Rundfunk, kam ein neuer Auftrag: Bei einem Übersetzungsbüro. Die suchten einen billigen Studenten, der mit einem Fernschreiber umgehen konnte. Konnte ich zwar nicht. Aber ich behauptete es einfach. Und ich war billig. Und ich konnte Französisch und hatte Kenntnisse in Kroatisch und Russisch. Ich behauptete auch, dass mein Englisch perfekt sei. War es nicht, aber was tut man nicht alles, um eine Stelle zu kriegen. Es war Mitte der Siebziger, die Wirtschaftswunderjahre gingen gerade zu Ende, die Inflation lag bei 8 bis 10 Prozent, die erste Erdölkrise war da. Aber ich hatte einen Job. In einem Übersetzungsbüro. Vor einem Fernschreiber, den ich nicht bedienen konnte. Und mit der Aufgabe, mit dem Hauptbüro in England zu korrespondieren - in Englisch natürlich. Täglich kamen über den Fernschreiber irgendwelche Texte in irgendwelchen Sprachen herein, ich sandte sie weiter, sie kamen in irgendwelche Sprachen übersetzt zurück. Das war keine sehr sinnvolle Tätigkeit, aber sie erlaubte mir, nebenbei meine Bücher für die Uni zu lesen. Und eines Tages kam etwas mit der Post. Ein vierseitiger Text über Rüttelsiebe. In Französisch. „Das können Sie doch, oder? Haben Sie doch gesagt, nicht?“ Naja, hatte ich. Der Mann, der „rocket“ als „kleiner Felsen“ übersetzt hatte. „Klar doch“. Et merde. Rüttelsiebe. Kardangelenk. Schwingungsmotor.
En vrac. Über vier Seiten. So entdeckte ich, was „Terminologie“ ist. Ein Besuch in der Universitätsbibliothek. Begegnung mit „Ernst, Wörterbuch der industriellen Technik“. Daneben Wörterbücher der Elektrotechnik, der Mechanik, der Atomphysik, der Installationstechnik. Bergbau, Automobilbau, Chemie, Pharma, Medizin... Eine neue Welt. Der kleine Fussball aus dem Rinnstein wanderte plötzlich in einen ganz anderen Rahmen: Ein Stadion, Flutlicht, Fernsehübertragungswagen, Sportreporter, hochgerüstete Mannschaften. Ein Text über Rüttelsiebe. Als Augenöffner. Ich brauchte vier ganze Tage für die vier Seiten. Jedes unbekannte Wort wurde aus einem Mysterium zu einem neuronalen Netz, in dem das Wort in ein Beziehungsgeflecht eingesponnen war. Der Schwingungsmotor konnte „osciller“ oder „vibrer“. Er konnte auch „Unwuchtmotor“ heißen. Und dennoch denselben Zweck erfüllen. Das Wort hatte keine Bedeutung. Ein Fußball im Rinnstein. Ohne Energie und Dynamik. Aber vor den Füßen eines Ronaldinho wird er zum Brennpunkt des Geschehens. So lernte ich Übersetzen. Im Schweiße meines Angesichts. Tausende Bücher standen in der Bibliothek des Institus für Dolmetsch- und Übersetzerausbildung an der Universität Wien. Man beginnt mit einem Wort, einer Wortverbindung. „Ajustement des courroies“. Courroie? Was ist das, was tut das, woraus besteht das, wie übersetzt man das? Was man nicht kennt, muss man lernen. Und so lernte ich das Übersetzen, weil ich dabei lernen konnte. Vorher wusste ich nichts über Rüttelsiebe, nachher wusste ich alles. Ich hatte es nicht übersetzt, sondern verstanden. Ich war Teil des Textes geworden, weil meine Interpretation der technischen Abläufe in meine deutsche Übersetzung eingeflossen war. Stolz lieferte ich meinen ersten Text ab. Ich war sicher, alles verstanden zu haben. Ich hatte die richtigen Übersetzungen für alle Termini. Ich war zum Rüttelsieb geworden. Aber der Text kam zurück. Mit Anmerkungen. Es sei eine akademische Übersetzung, in Wahrheit würde kein Ingenieur so schreiben. Die Professoren an der Technischen Uni vielleicht, aber nicht die Maschinenbauingenieure, die die Anlage bauen. Konnotation. Signifiant, signifié. Gebrauchssprache. Veraltete Ausdrücke. Neologismen. Das Wort und sein Netzwerk. Nicht nur Bücher sind in diesem Netzwerk, sondern und vor allem die Menschen, die es verwenden. Und so lernte ich Übersetzen, um zu lernen. Ich wusste nichts von Computern, als ich mein erstes Computerhandbuch übersetzen musste. Ich hatte keine Ahnung von einer Firmenorganisation, als ich die Neustrukturierung von Bosch France übersetzen musste. Schon gar nichts verstand ich von den Abkürzungen französischer Etablissements und Diplome, als ich 150 Lebensläufe der Kandidaten für den Direktorsposten bei Rossignol übersetzen musste. Oder die Zusammensetzung der Präparate von Rhône Poulenc. Später lernte ich, Solschenizyn zu übersetzen. Ich lernte etwas über Glücksspiele mit einem Buch über ein Roulettesystem, mit dem ein französischer Baron um sein Vermögen gebracht wurde. Ich verstand, dass eine Firmenzeitschrift für Novotel oder für Citroën nicht denselben Stil verträgt. So wurde Übersetzen zu meinem wichtigsten Lehrmeister. Sprache wurde meine Schule. Ich habe seit dem Rüttelsieb nie mehr aufgehört zu lernen.
|